Erlebnispädagogik und das Wir- Gefühl

 Aus unserer Rubrik Praxis Erlebnispädagogik

Erlebnispädagogik, das Wir- Gefühl oder das „kleine Wir“

Neben den körperlichen Aspekten und Herausforderungen innerhalb von erlebnispädagogischen Settings steht noch eine andere, wichtige, spannende und elementare Komponente. Eine Komponente, die oft negiert, belächelt und völlig zu Unrecht weniger Beachtung erfährt. Eine Komponente, die weitaus mehr als eine „über Gefühle reden“ Sache ist: Der sozial-emotionale Bereich.

Wer kennt es? Die leicht gestellte Frage „wie geht es dir?“ und die leider schon geflügelte, selbstverständliche – oder automatische? – Antwort „Gut, danke!“.

„Gut, danke!“ – mir sind meine Gedanken heute schwer, und ich kam nicht gut aus dem Bett, ich fühle mich hässlich und spüre den Druck auf meiner Schulter. Ich habe Angst zu versagen, ich habe Angst beschämt zu werden. Ich fühle mich manchmal so schlecht…. Und dann ist da noch Neid und Eifersucht. Auf alle, die es schaffen besser auszusehen, schlanker sind, muskelstärker, größer, beliebter, in Beziehung, erfolgreich…. „Gut, danke! Und dir?“

Erlebnispädagogik und das Wir- Gefühl. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit!
Der Preis der Aufrichtigkeit: Erlebnispaedagogik und das Wir Gefühl
Der Preis den wir bezahlen…

Wer kennt es, auf eine Frage von Freunden oder Bekannten nicht ehrlich zu antworten, aus Sorge und Angst vor der Reaktion des Gegenübers? Wer kennt es, die Situationen, die Themen, die Gefühle zu negieren, zu überspielen, ja auf „cool“ zu machen? Wir alle kennen das! Aus eigenen Erfahrungen heraus und aus über 20 Jahren Erfahrung im erlebnispädagogischen Bereich. Wir kennen das, die Ängste, die Nöte, die Sorge nicht zu genügen, werden oftmals überspielt um den Platz in der Gruppe zu sichern. Dazugehören, akzeptiert werden. Vermeintlich….

Denn wir kennen auch den Preis, der dafür gezahlt wird, die Nöte, die Ängste und die Anstrengungen, die hinter dieser Schauspielerei stecken. Wir kennen die Fragilität dieser unbefriedigenden Beziehungen. Und wir kennen die Leere, die sie hinterlassen. Die Leere, die so vielfältig ist wie jeder einzelne Mensch. Wir haben sie oft gesehen und wir sind mit ihr in Kontakt gekommen.
Und wir möchten euch erzählen, was wir gesehen haben und was Erlebnispädagogik damit zu tun hat, und bewirken kann.

Eine wahre Geschichte…

Es war eine Ausbildungsgruppe, die sich bunt wie immer und aus allen Ecken heraus zusammengefunden hat. Eine Ansammlung von Menschen mit einem gemeinsamen Ziel – den Abschluss zum zertifizierten Erlebnispädagogen. Ab dem ersten Tag waren sie eine Gruppe, ein soziales Gebilde. Keine formelle, keine informelle Gruppe. Sondern zunächst eine Sekundärgruppe.

Zu allen diesen Begriffen gibt es haufenweise Definitionen und Ausführungen, aber eins steht bei der Thematik Gruppe voran, ob primär, sekundär, informell oder formell: das WIR-Gefühl.

Zurück der Ausbildungsgruppe. Da kommt also eine Menge von etwa 16 Menschen zusammen, meist fröhlich, aufgeregt, etwas überdreht, vielleicht auch nervös und vor allem: einander unbekannt, zusammen und soll, bitteschön, ein WIR-Gefühl haben? Schon von Anfang an, qua Definition?

Hat in der Ausbildung Erlebnispädagogik bei N.E.W. großen Anteil: Das Thema Erlebnispaedagogik und das Wir Gefühl
Praxis Erlebnispädagogik: Wir wollen öffnen!
Wie entsteht das Wir- Gefühl?

Diese Gruppe begibt sich nun auf die gemeinsame Reise, allen innewohnend die Gestaltungslust und die Entdeckungsfreude. Alle diese Menschen besitzen die Fähigkeit sich selbst zu organisieren, jeder und jede für sich und als Gruppe. Aber wo zum Kuckuck ist das WIR-Gefühl? Es taucht doch sofort in den Definitionen auf, ist in vielerlei Kontexten sofort da, wird als geflügeltes Wort benutzt, WIR, die Menschen, die Bewohnerinnen, die Tierschützer, die Kletterer, die Lehrer, die Handwerkerin… also, wenn es jeder Mensch benutzt, dann ist es doch auch überall. Oder nicht? Braucht es dafür vielleicht etwas, oder ist es qua Absichtserklärung, die Niemand wirklich unterzeichnet hat, aber alle voneinander erwarten, automatisch da? Oder ist es das, was sooft belächelt, negiert und despektierlich behandelt wird: ein Gefühl?

Ja, das ist es. Das sehen wir so, das haben wir so erfahren und erlebt, und vor allem: das fühlen wir.

Und dann wird es langsam spürbar…

So ist es, dass die Ausbildungsgruppe schnell spürt, dass wir „WIR“ leben. Einander anfassen, einander anschauen, wir spüren und wir leben, und ja, wir fühlen es. Das WIR, das mal stärker und mal schwächer scheint, das WIR mit Meinungsverschiedenheiten und auch Zoff, das WIR, das einander keine Beweise braucht und auch ohne täglichen Kontakt lebt. Und das WIR, mit allen, die wir darin inkludieren, gelingt. Es offenbart sich, immer und immer wieder, trotz und gerade wegen aller Höhen und Tiefen, mit Schatten und Licht. Und das Verrückte, wir können es nicht erklären, sodass es für alle greifbar und schablonenmäßig abzupausen wäre. Wir fragen uns das immer wieder und jedes Mal offenbart es sich uns „nur“. Wir fühlen es, ohne eine Bedingung an unsere Erfolgszahlen zu knüpfen, denn gerade in herausfordernden Zeiten wie diesen, spüren wir es noch mehr. Die Zusprachen, das Mut Machen, das Nachfragen, das uns nicht vergessen, das Anbieten von Hilfe, das Dasein, das Zurückrufen, das einander zugewandt sein. Und irgendwie verbunden, auf die eine und andere Art und Weise.

Erlebnispädagogische Praxis schafft Lernräume in und außerhalb der Komfortzone

Dieses, was beschrieben wurde – ist das, weil wir qua Definition eine Gruppe sind? Oder ist es das, was wir aus der Tatsache gemacht haben, einander gefunden zu haben, zueinander gekommen zu sein, und einen – wenn auch temporär begrenzten – gemeinsam Weg zu gehen? Wir sind überzeugt, dass es das ist, was wir daraus GEMACHT haben. Durch unsere Vorstellungskraft von einer Zusammenkunft von Menschen, die das WIR lebt, was wir uns für alle wünschen, die den Selbstorganisationsprozess mit uns füllen und leben, und gestalten. Und wir zeigen das. Wir füllen dieses WIR mit leben, und stehen zu allem, was dazugehört. Das spüren auch schnell unsere Mitmenschen, Azubis, Kundinnen, Praktis, Trainer, Schülerinnen….
Ferner: Wir sprechen darüber. Wir erzählen. Lachen und weinen miteinander, füreinander, wegen einander (gibt es das? Egal. Ihr wisst, was wir meinen 😊 ) – und wir zeigen Gefühle. Was brauchen wir demnach zum einander kennen? Uns, und offene, ehrliche Begegnungen. Eine Verbundenheit zueinander, eine -romantischer formuliert- Zuneigung zueinander.

Die richtige Haltung sorgt für die Möglichkeit, sich zu entfalten!
Der Weg zum Wir

Wie das „Wir“ entsteht? Über Kommunikation, über ehrliche Antworten, über ehrlich interessierte Fragen, über Zeit, über gemeinsame Momente, über Streitigkeiten, über Meinungsdifferenzen, über Reflexion, über Schatten- und Lichtmomente, über aktive Gestaltung des WIR. Das WIR von früher war etwas, zu dem wir sozusagen gemacht wurden, von außen erzwungene Gemeinschaften, denen in Kern nichts innewohnt, was sie wirklich zusammenhält. Was uns wirklich im Inneren zusammenhält, ist das was übrigbleibt, wenn alles von außen Auferlegte wegbricht. Und wenn ihr euch jetzt fragt, wieso es so viel Gemeinschaft gibt, die augenscheinlich so stark WIR verbunden ist: Neurobiologisch ist dieses Zusammenhalten eine Bewältigungsstrategie bei Ohnmacht, Hilflosigkeit, und Überlebensangst. Es ist eine Reaktion, keine Freiwilligkeit. Oft zerfällt dieses Gemeinschaftssein, wenn die gegenwärtige Situation vorüber ist. Kennt ihr? Vielleicht aus Momenten von Demos, Protesten, Aufständen und Bewegungen? Von Partyfreunden, von falschen Freunden, von Zusammenschlüssen, um dazuzugehören?

Verbundenheit entsteht jenseits von Not, Ängsten und Zwang. Verbundenheit, die aus dem Inneren kommt ist etwas, was weder Worte, noch Beschreibungen fassen. Es ist ein Gefühl, etwas was kommt, wenn Fragen und Antworten, Bedingungen und das Außen nichtig werden.

Verbundenheit, das ist WIR. Verbundenheit entsteht durch aktive Gestaltung im Miteinander.

Lernen in Gruppen
Und jetzt eine Frage an euch:

Eine Gruppe von zusammengewürfelten Menschen in einem Betrieb, sich teils unbekannt (wie in der Ausbildungsgruppe), teils unsicher, nervös und aufgeregt hinsichtlich ihrer Aufgaben (wie in der Ausbildungsgruppe), soll ein WIR-Gefühl spüren? Jemand, der auf die Frage nach dem Befinden die Unwahrheit sagt, Jemand, der eine Frage stellt und die Antwort gar nicht hören will? Diese zwei Jemands fühlen innere Verbundenheit und Zuneigung?

Was es für die Gruppe der informellen und formellen Gruppen, für Primär- und Sekundärgruppen, für ALLE MENSCHEN braucht, sind echte, ehrliche und einander zugewandte Begegnungen und Erlebnisse. Und, liebe Lesenden, das macht, unter anderem, Erlebnispädagogik. Eine Gruppe Azubis erlebt mit uns Momente, Gespräche, Augenblicke und Verbundenheit. Und jeder einzelne Mensch darf sich entscheiden, was er oder sie davon annehmen möchte und aktiv mitgestaltet, und was nicht.

Wir, das N.E.W. Institut, richten demnach unsere Schwerpunkte in der Ausbildung nicht nur auf die „Hard Skills“, wie schon im Beitrag „Auf die Haltung kommt es an“, aufgezeigt wird. Wir wissen um die sozial-emotionale Komponente und bauen sie bewusst und verstärkt in unsere Settings ein, ob Ausbildung, Schullandheim, Workshops, Miteinander. Und wir wollen das bewusst in Szene setzen und forcieren.

Das, was du gerne machst und das, was du besonders intensiv machst, erreicht dein Gehirn und sendet Signale. Und unser Gehirn wird so, wie wir es formen, wie wir es benutzen. Genauso leider auch im Umkehrschluss. Und aufgrund dieser wenigen, aber brillanten Erkenntnissen der Hirnforschung wollen wir das. Ganz genau so, wie wir es euch in all unseren Settings zeigen. Ehrlich, nahbar, greifbar, aufrichtig, echt und gefühlvoll. Mit Antworten wie „ey, mir geht es gerade scheiße, ich bin richtig abgefu***, ich bin genervt, du nervst, ich hab kein Bock auf den Kram hier, das ist doch voll hippie, ich schaffe es nicht, ich weiß nicht weiter, ich bin motzig, bockig, zickig…“ als auch mit solchen „mir geht es Bestens, ich hab es geschafft, ich bin gerade richtig happy, krass das ist echt mega, ich hab euch voll unterschätzt, ihr seid gar nicht langweilig, ich habe noch nie so offen geredet.“

Das kleine WIR. Drei Buchstaben, und  sooo viel mehr…

Zur Autorin

Dieser Artikel aus unserer Rubrik Praxis Erlebnispädagogik entstammt der Feder unserer langjährigen Mitarbeiterin und Trainerin Sarah Neuberger, die, wenn nicht grade für uns unterwegs, für die Waldfreunde Hahnstätten tätig ist. Sarah ist Sozialarbeiterin, Wildnispädagogin und Erlebnispädagogin.

Erlebnispädagogin Sarah Neuberger