Geh raus und sei verletzlich

Die Weisheit des Bäumebiegens

Vorweg: Ich bekam einige Fragen und Anmerkungen zu meinem Blog „Leben mit Corona-wider der Natürlichkeit von Corona“ und so hatte ich Lust, dieses Thema ein wenig zu vertiefen, um zu zeigen wie Erlebnispädagogik Verletzlichkeit lehrt.

Ich bin in einem kleinen Ort im Schwarzwald groß geworden. Und an der folgenden Schilderung stelle ich mit leichtem Entsetzen übers älter werden fest, dass ich von einer anderen Epoche berichte:

Wenn die Schule aus war und das mit den Hausaufgaben erledigt, trafen wir uns. Meist war unklar wann und wo genau und wer genau hinzukam. Es gab keine Whatsapp-Gruppe, keinen Standort den man hätte schicken können. Keine Eltern die uns irgendwo hinfuhren, kein Wetter was das Treffen unterbunden hätte, kein Virus mit Lock Down…
Es gab Türklingeln! Unsere Bande hat sich von Tür zu Tür zusammen geklingelt. Manchmal hing noch einer an seinen Hausaufgaben fest und der kam dann nach und hat uns wie auf magische Weise gefunden, ohne Handy und Standortbestimmung. Fast immer zog es uns Jungs (leider war kein Mädel mit dabei) raus in die umgebende Natur des Schwarzwalds.

Schönheit des Schwarzwalds
Schwarzwaldbach

Und dort ging es nicht selten zur Sache!

Wir gingen in irgendwelchen Gewässern baden und hängten unsere Klamotten übers Baden-Verboten-Schild. Wir stauten Bäche oder fuhren mit selbstgebauten Skateboards die Steilstraßen des Schwarzwald hinunter. An den Brettern schauten die Nägel in alle Richtungen raus, die zur Befestigung des Rollschuhs am Brett dienten. Bei Kurven fuhr meist einer voraus und warnte die anderen bei Gegenverkehr. Wenn wir damit doch überrascht wurden, bogen wir sofort ab zur Hangseite und warfen uns ins Gelände oder wählten die andere Seite und sprangen direkt über die Leitblanke den Hang hinunter.
Wir lernten den Umgang mit dem Feuer und wie herausfordernd es sein kann, eine Trockenwiese die Feuer gefangen hat wieder auszutrampeln. Zusammen bogen wir junge Laubbäume mit Hilfe eines Seils und der Zugkraft der ganzen Gruppe Richtung Boden und einer durfte sich dranhängen und erleben wie es sich mit so einer Riesenpeitsche fliegen lässt.

In nassen Turnschuhen eroberten wir die Bachkanalisation der Kleinstadt und betraten diese Unterwelt ohne Stirnlampe. Wir nahmen diese Dunkelheit einfach so in Kauf. Fußball spielten wir auf der geteerten Straße und wenn ein Auto kam unterbrachen wir das Spiel erst im letzten Moment. Im Winter vertrauten wir dem dünnen Eis des Dorfweihers recht früh. Darauf Fußball zu spielen war einfach nur lustig und das Spielfeld wurde eindeutig durch den tragbaren Bereich der Eisfläche begrenzt. Landete der Ball in dem noch dünneren Eis haben wir unsere Menschenkette gebaut. Wenn wir ausrutschten und hart aufm Rücken landeten hörten wir das Knacken des Eises und beobachteten mit einer gewissen Faszination wie sich unter uns Risse im Eis bildeten. Im Sommer packten wir unsere Rucksäcke und erwanderten einen der Schwarzwaldgipfel, um dort zu übernachten. Wir fanden den Weg ohne GPS und ohne Landkarte und manchmal fanden wir unseren Weg nicht und hatten dafür ein weiteres Erlebnis.

Wir waren einfach ganz normale Jungs im Schwarzwald.

Und wir waren verletzbar!

Und wir nahmen dieses Risiko in Kauf, dachten nur bedingt darüber nach. Es war ein Teil des Spiels. Wir ertasteten damit die dunkle Seite des Lebens. Wir hatten unzählige Schrammen von unseren Abenteuern, wir lernten Wunden einzuschätzen, wussten, wann das Bluten wieder aufhören sollte, kannten die verschiedenen Phasen von Krustenbildung, wussten, wann es an der Zeit war, den verletzten Kollegen zum Dorfarzt zu schleppen, entfernten Zecken und spielten weiter.

Beide Geschäftsführer vom N.E.W.-Institut sind so in ihren Schwarzwälder Kleinorten aufgewachsen und sicherlich ist ein Teil unserer Arbeit dort und in jenen Erlebnissen verwurzelt. Versicherungstechnisch können und wollen wir unsere heutige Erlebnispädagogik so nicht anbieten, das ist klar. Unser Versicherungsmakler würden durchdrehen. Die Eltern all dieser Schüler*innen, die mit uns auf Klassenfahrt gehen, erwarten (zurecht) von uns ein anderes Risikomanagement. Und dennoch propagier ich in meinen Ausbildungsgruppen zur Erlebnispädagogik: Geh raus und sei verletzbar!

Kleine Wunden

Das Thema beinhaltet mindestens vier Facetten

Verletzlichkeit in der Erlebnispädagogik
Körper

Auf einer rein körperlichen Ebene gibt etwa der Sport- und Ernährungswissenschaftler Gerrit Keferstein auch den Hinweis, in den Wald zu gehen und sich den ein oder anderen Kratzer zu holen. Wir laden dadurch neue Keime ein und unser Immunsystem wird trainiert. Unser Körper ist ein sehr wandelbares Wesen. Er regeneriert sich jeden Tag neu. Ihm neue Erfahrungsanreize zu geben erhöht seine Flexibilität.

Psyche

Auf einer physisch-psychischen Ebene begeben wir uns, wenn wir Wagnisse eingehen, in die Lernzone. Wir verlassen unser gemütliches Sofa und gehen in unsere je eigenen Abenteuer.
Hierzu eine etwas pauschalisierte, subjektive Sichtweise auf unsere aktuelle Gesellschaft: Wir haben eine Versicherungs- und Absicherungswelt installiert! Die Welt der Kinder findet häufig sehr viel geregelter statt als damals bei uns im Schwarzwald. Die Kids werden von den Eltern zum nächsten Freizeittermin gefahren, dort gibt es klare Aktionen, Sicherheiten, Versicherungen… In der eigenen Freizeit erleben die Kids die Gefahren und Risiken häufig nur indirekt in virtuellen Welten und oftmals mit dem fatalen Grundfehler, bei diesen Onlinespielen auch noch mehrere Leben zu bekommen.

Verletzlichkeit von der Natur lernen
Erlebnispädagogik und Psyche

Unser Leben findet immer regulierter statt. Zum Beispiel auch temperaturtechnisch. Ich bin oftmals erstaunt, wie herausfordernd es selbst bei unseren erlebnispädagogischen Ausbildungsgruppen sein kann, einen geeigneten Platz im Freien zu finden, an dem wir als Gruppe länger verweilen können. In wissender Vorahnung suchen wir dann schon möglichst Plätze mit und ohne Schatten aus. Schnell ist es uns zu heiß oder zu kalt… Ich glaube, unsere moderne Gesellschaft hat uns zu sehr in Watte gepackt: Deshalb gibt es bei uns Deutschen nur ein minimales Wetterfenster, mit dem wir es aushalten wollen: 24 Grad und Schäfchenwolken. Jedes andere Wetter wird mit einem Mangel degradiert. Wir nutzen natürlich die Voreinstellung der Klimaanlagen in unseren Autos und Wohnungen. Wir verzichten auf unnötige Hungergefühle und füttern uns stets so, dass dieses Hungergefühl nicht zu sehr Raum nimmt, wir essen zu viel, wir vermeiden Anstrengungen und erlauben es uns, maximal im Fitnessstudio zu schwitzen und danach wird gleich geduscht, wir versichern uns bis unter die Ohren, wir haben Angst, mit dem Auto geblitzt zu werden, usw…

Seele

Auf einer spirituellen Ebene birgt dieses Thema ein weites Feld bis hin zum Erkennen unserer eigenen Sterblichkeit! Alle großen Mystiker laden uns zum Umgang mit dem Tod ein! Unsere Gesellschaft versucht, dieses dunkle Thema zu negieren. Aktuell hoffen wir alle auf einen Impfstoff, der alles wieder gut machen wird und vergessen unser eigenes Immunsystem und wie wir es stärken könnten. Wir Menschen sind sterblich! Es wird immer Krankheiten geben. Alle werden sterben! Das ist die traurige oder viel besser: Die gute Nachricht. Sie hilft uns nämlich zu entspannen, anzunehmen und Verletzlichkeit zu zulassen. Damit soll kein Wunsch nach einem gesunden und erfüllenden langen Leben negiert werden, gar nicht! Im Gegenteil: Durch die aktive Akzeptanz des Todesthemas in unser Leben werden wir lebendig. Die Essenz von Verletzlichkeit ist dieser Türöffner in eine erweiterte Dimension unseres Lebens: Die Bereitschaft, den Tanz mit dem Tod zu tanzen!

Verletzlichkeit und Zartheit
Feuer und Verletzungsgefahr in der Erlebnispädagogik
Liebe

Auf der Ebene der Liebe eröffnen wir uns damit die Erlaubnis, uns zu zeigen mit ganzem Herzen und ganz verletzlich. Von einer weisen Frau kam einmal ein Satz zu mir an dem ich mir bis heute die Zähne ausbeiße, ihn manchmal verstehe, ihn manchmal einfach wegkicke, um ihn dann wieder sanft zu umarmen:

Dann wenn wir uns erlauben,
uns in unserer Verletzlichkeit ganz zu zeigen
werden wir unverletzbar!

Unsere kleine, feine Erlebnispädagogik kann Verletzlichkeit lehren und bringt Kids und Jugendliche und Erwachsene zurück zu ihrer Verletzlichkeit, sei es körperlich, psychisch, spirituell oder auf Grundlage der allumfassenden Liebe.

Ein wenig schade, dass wir aktuell nicht mehr arbeiten dürfen, weil die Angst die Verletzlichkeit nicht zulassen kann, will, darf. Eine Annahme von Verletzlichkeit kann der Angst ihre Energie rauben. Wir möchten eine Einladung aussprechen für mehr Mut, mehr Wagnis, mehr Verletzlichkeit, gerade jetzt in diesen Zeiten einer sehr herausfordernden Krise. Lasst uns gemeinsam wieder mehr Bäume biegen und zusammen in die Abgründe der Kanalisation unserer Stadt schreiten. Lasst uns in die Natur eintauchen und mit der eigenen Haut an den Brombeerhecken hängen bleiben, lasst uns den kleinen Schmerz fühlen, uns gegenseitig Trost zusprechen, während wir neugierig beobachten, wie sich diese Kruste bildet. Während in uns unsere Hormone, die Psyche und unsere Seele den Tanz mit dem Tod tanzen und das Leben feiern dürfen!

Erlebnispädagogik und Risikomanagement
Zum Autor

Stephan ist im Schwarzwald aufgewachsen und ihm treu geblieben. Der Schwarzwald hat ihm die Verletzlichkeit gelehrt und tut dies noch immer täglich. Sich Verletzlichkeit einzugestehen und diese zu zeigen ist ein Lernweg den der Schwarzwald noch immer mit ihm treibt.

Stephan Straub Visionssuche