Erlebnispädagogische Praxis – Auf die Haltung kommt es an!
Unsere neue Rubrik Erlebnispädagogische Praxis – heute von Sarah Neuberger.
Unsere neue Rubrik Erlebnispädagogische Praxis – heute von Sarah Neuberger.
„Komm schon, trau dich!“
„Wie lange sollen wir doch noch auf dich warten…..“
„Ey, auf jetzt!“
„Jetzt reiß dich mal zusammen, und lass dich fallen!“
„Echt, stell dich nicht so an, das ist doch gar nicht hoch!“
Ein einziger Satz. In den meisten Fällen gut gemeint, unterstützend, motivierend gedacht, anfeuernd. Schon so oft gesagt, in vielen anderen Momenten auch augenscheinlich funktional, „an den Mann gebracht“, zielführend eben. Und wie oft haben wir diese oder ähnliche Sätze schon in früher Kindheit gehört, von Erwachsenen, die es gut meinten. In der erlebnispädagogischen Praxis ist jedoch diesbezüglich besondere Achtsamkeit gefragt!
Lisa steht auf dem Palettenturm, sie nestelt nervös an sich herum, lacht etwas lauter wie nötig und hört die Stimmen ihrer Klassenkameraden. Sie sieht die Augen, die Blicke, hört ihre Stimmen und unterdrückt ihre Angst mit allem, was ihr zur Verfügung steht. Sie überspielt, lenkt ab, macht so, wie es sie es schon häufiger in Serien sah, wenn Mädchen und Jungen so kleine „Mutproben“ hatten. Lisa macht auf cool, aber doch ein bisschen ängstlich – das wirkte doch auch in den Serien so lässig.
Es funktioniert auch eine Weile, aber dann ist sie wieder da. Diese Stimme, die „NEIN NEIN NEIN“ in ihren Kopf schreit. Es geht nicht. Sie schafft das nicht. Sie will es auch nicht. „Los, sag es ihnen einfach“ kommt ihr den Sinn. Doch dann hört sie wieder die Stimmen der ihrer Klassenkameraden, die immer ungeduldiger werden. Einige sprechen miteinander, statt, wie vereinbart, ruhig zu sein. Und auch der Lehrer wirkt abwesend. Er sollte den Fall mit seiner Kamera aufnehmen, aber das wird nichts, er schaut ja gar nicht hin. Auch der Erlebnispädagoge Tom wirkt auf sie wenig beruhigend. Im Gegenteil, er fing mit dem vermeintlichen Anfeuern an…
Lisa spürt, es liegt jetzt an ihr und sie muss sich entscheiden. Der Druck wächst spürbar und die ganze Situation wirkt immer bedrohlicher auf sie. Ihre Hände werden feucht. „Los jetzt, Lisa, die anderen wollen auch noch drankommen.“ Lisa blickt in die Augen von Tom, der jetzt nah bei ihr ist. Hilfesuchend, unterstützend blickt sie ihn an. „Ich…ich….ich kann…..“ stottert sie und prompt antwortet Tom breit grinsend „Du kannst, das weiß ich. Also los jetzt!“
Dies ist nur der Abriss einer Situation, wie wir sie leider in der Praxis Erlebnispädagogik schon häufiger erlebt haben. Aus einem Vertrauensfall wird eine Mutprobe. Der Unterschied: Das eine macht auf, das andere macht dicht. Innerlich, oft unbemerkt und leise. Für Außenstehende nicht immer wahrnehmbar, für den Teilnehmer aber ein Erlebnis, was ihn oder sie noch lange Zeit begleiten wird.
Ein Paradebeispiel dafür, wie feinfühlig und sensitiv, begleitend und wachsam Erlebnispädagogik sein sollte. Und wie schnell, in den allermeisten Fällen gar nicht mal gewollt – das Blatt sich wenden kann.
Viele Angebote der Erlebnispädagogik stehen und fallen mit der Anleitung. Das BESTE Tool kann grob fahrlässig versaut werden, wenn die anleitende Person nicht die passende Haltung hat. Das Beispiel „Vertrauensfall versus Mutprobe“ steht demnach stellvertretend für viele erlebnispädagogische Angebote, Settings und Rahmenbedingungen.
Grundsätzlich gilt für uns: Ein Vertrauensfall öffnet. Er bringt die Gruppe näher zusammen, lässt eine(n) jede(n) innerlich wachsen und begleitet die Teilnehmenden positiv und aufrichtend noch eine ganze Weile über das Erlebnis hinaus.
Wir wollen diese exemplarische Situation mal genauer beleuchten und Ideen liefern, wie ein Vertrauensfall der öffnet ablaufen kann. Einer die Gruppe wirklich zusammenschweißt, der das eigene Erleben sanft begleitet und einen wachsen lässt. Und neben dem Erzählen, wie wir es sehen, wollen wir auch ein paar Menschen hinzuziehen, die sich wissenschaftlich fundiert richtig gut in der Thematik auskennen und ausdrücken.
Professor Mandl nennt vier Lerngesetze, die bei genauer Betrachtung sehr den Lernprinzipien der Erlebnispädagogik ähneln. Diese möchten wir im Folgenden genauer benennen. Diese vier Prinzipien sehen wir mitunter als Säule, auf dem die Erlebnispädagogik, wie sie uns wichtig ist, und auch entsprechend weitergegeben werden sollte, aufbaut.
Die 1. Säule geht davon aus, dass Lernen ein aktiver und konstruktiver Prozess ist. Gegenüberstehend dem Lernen in Bildungssituationen, was dem trägen Wissen zugehörig ist, also passiv und rezeptiv ist, ist Erlebnispädagogik hingegen absolut aktiv und konstruktiv. Klar, Strategien zum Vergessen sind auch wichtig, sonst würde der ganze Kram aus der Schule ja ewig in uns bleiben, aber das „Neues“ in uns bleibt, das liegt an der subjektiven Bedeutung, die wir dem „Neuen“ zuschreiben. Und, wieder auf unser Beispiel zurückführend – dieses Erleben ist neu und „bleibt“, und macht in unserem Beispiel leider auch „dicht“.
Ein Vertrauensfall der öffnet, der neue Erfahrungen subjektiv wichtig werden lässt, wie zum Beispiel „hey, ich habe Zeit für meine Entscheidung, und keiner zwingt mich“ oder „Egal, ob ich hier wieder runterklettert oder nicht, ich bin zu jederzeit allen wichtig und bedeutsam genug, dass sie in der Situation voll bei mir bleiben“ ist unser Ziel für die erlebnispädagogische Praxis. Das ist uns wichtig. Denn uns sind die bleibenden, tragenden und guten Momente der Schüler *innen, der Lehrer *innen, ja aller Menschen die zu N.E.W. kommen wichtig, weil sie auch für uns wichtig sind. Da ist nicht nur Altruismus dabei, sondern auch ganz banal – eigenes Interesse. Es fühlt sich nicht gut an, wenn Leute so tun als ob es cool war, oder lachen, obwohl ihnen zum Heulen zumute ist.
…ist das situations- und kontextgebundene Lernen. Das heißt die Inszenierung der Situation, in der das Lernen stattfinden soll, sollte nicht dem reinen Zufall überlassen werden. Sie sollte von Anfang bis Ende von dem Leitenden der erlebnispädagogischen Einheit sicher im Griff sein. Wir reden hier nicht von Kontrolle, sondern von Überblick, Flexibilität für die Adressaten und Interessen der Adressaten, sowie genügend Knowhow um sich den Umständen anpassen zu können. „Biete nicht an, was du nicht abfangen kannst“ sollte, unserer Meinung nach, ein Slogan sein, den sich alle Menschen in Erinnerung halten sollten, wenn sie pädagogisch intervenieren. Gerade in unscheinbar wirkenden Angeboten kann ein enormer Effekt stecken, der nicht nur in die positiv öffnende dynamische Richtung geht, sondern auch ganz schnell in die re-traumatisierende blockierende negative Richtung abdriften kann. Bezogen auf unser Beispiel wird sich Lisa nicht mehr so schnell auf gruppendynamische Prozesse einlassen können. Sie wird innerlich dichtmachen und maximal als außenstehende neutrale Beteiligte teilnehmen.
Es kann auch sein, dass Lisa zukünftig solche Erlebnisse meidet und bei allem, was mit Gruppenaktivität in Verbindung gebracht wird, an dieses für sie schreckliche Erlebnis aus der erlebnispädagogischen Praxis zurückdenkt.
Die 3. Säule ist der selbstgesteuerte Lernprozess. Schließt sich wunderbar an die zweite Säule und unser Beispiel an. Lisa war alles andere als selbstgesteuert, sondern unter Druck. Unter solchem können sicherlich Diamanten entstehen, Seelen können so aber gebrochen werden. Selbststeuerung ist in trägen und passiven Lernsituationen nur gering vorhanden, was aber auch für eine gewisse Zeitspanne okay ist. Erlebnispädagogik richtet sich aber, richtig angeleitet, genau auf dieser Säule aus und erschafft damit viele wunderbare Lernmomente.
Und schon sind wir bei der 4. Säule angekommen, dem sozialen Prozess des Lernens. Wir, du und ich, sind alle Herdentiere. Sicher, der eine mehr und der andere weniger aber – sind wir mal ehrlich, Lernen in Gruppen kann sehr schön und bereichernd sein. Es kann, dann wenn die Dynamik einer Gruppe seitens des Anleiters nicht aufgegriffen wird (siehe unserem Paradebeispiel), massiv in die Hose gehen. Und vor allem, persönliche und einmalige Lernmomente verschenken.
Wir hoffen, dass dieses natürlich leicht überspitzte aber wichtige Beispiel aus der erlebnispädagogischen Praxis für euch transparent und einleuchtend war. Zudem dass die Relevanz der Haltung und das Feingefühl des Anleitenden Menschen deutlich wurde. Es geht nicht nur um das fachliche Wissen, was selbstverständlich auch vorhanden sein sollte, sondern auch um das menschliche Feingefühl, die zwischenmenschlichen Tentakeln, das Bauchgefühl und die unverzichtbare Tatsache, dass der Anleitende den Überblick über das Geschehen behält. Dass er die Fäden im Griff hat, um situativ, prozessorientiert und dynamisch auf die Gruppe und die Geschehnisse eingehen und intervenieren kann.
Ob 40 oder 14 Meter gemacht wurden, das zählt in der erlebnispädagogischen Praxis am Ende eines gelungenen Angebotes nicht. Vielmehr geht es um die strahlenden Augen, die Freude der Gruppe für jeden Einzelnen und die magische Verbundenheit. Das ist es, was trägt und worauf später zurückgegriffen werden kann, diese wundersamen prägenden Erlebnisse. Aber leider auch auf solche Negativen, wie im anfänglichen Beispiel dargestellt. Demnach gilt: Ein Vertrauensfall öffnet, eine Mutprobe macht dicht. Bei einem Vertrauensfall gibt es nur „Gewinner“, bei einer Mutprobe verliert mindestens einer…
Und deswegen ist es wichtig, dass wir verinnerlichen, dass Erlebnispädagogik nicht nur das Krasse ist, das Wilde, das Klettern, die Abenteuer, sondern dass auch die weichen, leisen und fast unscheinbaren Momente Erlebnispädagogik ausmachen. Die inneren, persönlichen Abenteuer, sozusagen, angeleitet von uns. Und alle glücklichen Menschen, denen wir dieses innere Abenteuer ermöglicht haben können ihre Seele in der Hängematte baumeln lassen.
Schönes Bild, oder 😊 ?
Dieser Artikel aus unserer Rubrik Erlebnispädagogische Praxis entstammt der Feder unserer langjährigen Mitarbeiterin und Trainerin Sarah Neuberger, die, wenn nicht grade für uns unterwegs, für die Waldfreunde Hahnstätten tätig ist. Sarah ist Sozialarbeiterin, Wildnispädagogin und Erlebnispädagogin.