»Bist du ein Junge oder ein Mädchen?«
Akzeptierst Du es als Lehrer *in, wenn ein Kind, das in Deiner Klassenliste als »Tom« aufgeführt ist, aber von Dir »Lisa« genannt werden will, ohne eine Erklärung zu verlangen? Wie kannst Du als Pädagoge *in Geschlechtsidentität mit Kindern locker thematisieren, ohne einen Vortrag zu halten?
In diesem Artikel berichtet Ronan, dem bei seiner Geburt das Geschlecht »weiblich« zugewiesen wurde, wie er auf unseren erlebnispädagogischen Klassenfahrten das Thema Geschlechtsidentität von Kindern und Jugendlichen eingebracht hat.
Ronan ist ein ehemaliger Praktikant und hat seine Ausbildung zum Erlebnispädagogen bei N.E.W. gemacht. Ihm wurde bei der Geburt das Geschlecht »weiblich« zugewiesen, womit er sich nicht identifiziert. Er bevorzugt das Pronomen »er«.
Ronan
Die Illustrationen in diesem Bericht wurden liebevoll von Ronan gemacht.
Wie gehen die Schüler*innen mit Deinen Pronomen um?
Im Büro hat das zu deutlich mehr Verwirrung und Unsicherheit geführt, als auf den Klassenfahrten. Ich habe das Gefühl, die meisten Kids nehmen das einfach so hin. Manchmal verbessern sie sich auch gegenseitig, wenn jemand das mit den Pronomen falsch macht. Vielleicht liegt das an meiner scheinbaren Autorität als Prakti. Ich weiß ja nicht, wie sie mit mir umgehen würden, wenn ich Teil der Klasse wäre. Oder vielleicht liegt es auch einfach daran, dass man in der Jugend sowieso noch ständig Dinge lernt, die man vorher nicht kannte, und es einem leichter fällt, Neues anzunehmen.
Natürlich frage ich mich immer, an welchem Zeitpunkt der Woche ich mich oute. Ich nehme keine Hormone und werde deswegen von den meisten Menschen weiblich gelesen, und wir sind leider noch nicht so weit, dass wir uns gegenseitig fragen, welche Pronomen wir bevorzugen. Meistens warte ich, bis wir mit der Klasse in einer Runde zusammensitzen, um mich mit den anderen Trainer *innen zusammen vorzustellen. Dann erkläre ich, dass ich transgender bin, und mich freue, wenn alle es hinkriegen, »er« Pronomen zu benutzen. Manchmal wissen die Kids auch schon, was das ist. Besonders die Funk Serie »Druck« hat da in den letzten Monaten viel Bildungsarbeit geleistet.
Würdest Du sagen, Du leistest Bildungsarbeit?
Ja, im kleinen Stil. Als ich mit vierzehn den ersten trans Menschen kennen gelernt habe, das hat schon einen großen Unterschied gemacht. Zu wissen, dass es sowas gibt. Dass ich nicht der einzige bin, der so fühlt. Das ist auch ein Grund, warum ich mich entschieden habe, als trans Mensch auch auf den Klassenfahrten sichtbar zu sein — für den Fall, dass Kids dabei sind, für die das wichtig ist. Und wenn man bedenkt, dass mindestens 0.3% der Bevölkerung trans Menschen sind, dann müsste in etwa jeder zwölften bis dreizehnten Schulklasse ein trans Mensch sein, und in der Hochsaison heißt das dann, dass bei N.E.W. fast jede Woche ein trans Kind mitfährt.
Es sind ja auch nicht nur die Betroffenen, denen es hilft, sich mit dem Thema zu beschäftigen, oder zumindest mal jemanden kennen gelernt zu haben. Ich denke, je mehr Menschen damit in Berührung kommen, desto mehr Akzeptanz wird es auch in der Gesellschaft geben, und dadurch vielleicht auch mehr Bereitschaft, sich selbst über LGBTQIA*-Themen zu informieren, auch wenn man selbst keiner sexuellen Minderheit angehört.
Was bedeutet LGBTQIA*?
Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Queer, Inter, Asexual — und das *Sternchen für alles, was noch fehlt. Queer ist quasi ein Sammelbegriff für alle Menschen, die nicht hetero oder cis-geschlechtlich sind. Cis-geschlechtlich sind alle, die sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, auch identifizieren können.
Hier ist eine Grafik, die erklärt, wie viele Variationen es eigentlich gibt, dass das biologische Geschlecht nicht unbedingt mit der Identität übereinstimmt (= trans), und dass die Geschlechts-Identität nicht mit der sexuellen Orientierung zusammenhängt, sondern in ganz verschiedenen Kombinationen auftreten kann.
Es gibt also auch lesbische, heterosexuelle und bisexuelle trans Frauen.
So könnte trans Geschlechtlichkeit zum Beispiel in einer Grafik aussehen
Was mir an dieser Grafik gefällt, ist, dass sie „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ nicht als zwei einander entgegengesetzte Pole darstellt, sondern als Qualitäten, von denen ein Mensch eben mehr oder weniger haben kann.
Und dann gibt es auch noch Intersexualität. Bei Intersexualität ist das biologische Geschlecht weder als eindeutig männlich noch weiblich feststellbar. Solche Menschen haben z.B. XXY-Chromosomen, oder eine gemischte hormonelle Zusammensetzung.
Weder männlich noch weiblich?
Eine Spielart davon, bei der Lebewesen biologisch gleichermaßen männliche und weibliche Merkmale zeigen, gibt es übrigens auch in der Tierwelt und ist besonders bei Vögeln und Insekten dokumentiert.
Inter Menschen und trans Menschen, die weder eine weibliche noch eine männliche Geschlechteridentität besitzen, haben es besonders schwer, denn in den Augen der Gesellschaft existieren sie eigentlich gar nicht. Es gibt für sie keine Anrede, keine Umkleiden und Toiletten, keinen erkennbaren Habitus und keinen passenden Geschlechtseintrag (erst seit neuestem dürfen inter Menschen nach Bestätigung einer Ärzt*in »divers« eintragen lassen — dies gilt nicht für trans Menschen).
Fast alle Bereiche unseres Lebens sind gesellschaftlich darauf ausgelegt, dass wir uns in »männlich« und »weiblich« einteilen.
Ein »gynandromorpher« Schmetterling, mit einer männlichen und einer weiblichen Hälfte, stilisiert mit der Transgender-Flagge im rechten Flügel.
Wie lange beschäftigst Du Dich schon mit dem Thema »Geschlecht« und Geschlechtsidentität von Kindern?
Eigentlich schon immer, nur war mir das nicht von Anfang an bewusst. Nach der Schule habe ich Freiwilligenarbeit im Magnus-Hirschfeld-Centrum in Hamburg gemacht. Dort konnten Schulklassen vorbeikommen, um sich einen Tag lang über Geschlechteridentitäten und sexuelle Orientierung zu informieren, und mit uns pädagogische Spiele zu spielen. Das habe ich als sehr wertvoll erlebt. Besonders weil diese Themen in meiner eigenen Schulzeit komplett unter den Tisch gefallen sind. Ich habe dort auch selbst sehr viel gelernt.
Hast Du auf Klassenfahrten denn überhaupt Zeit, das Thema Geschlechtsidentität mit den Kindern und Jugendlichen anzusprechen?
Ich nehme sie mir, wenn ich das Gefühl habe, dass es passt. Vor kurzem war ich auf einer Fahrt mit einer siebten Klasse, als ein Junge einen anderen gefragt hat: »Bist du schwul, oder was?«
Ich meine, das ist nichts Neues. Als ich zur Schule gegangen bin, war das Alltag, aber in dem Moment war es mir irgendwie wichtig, das nicht so stehen zu lassen.
»Und wenn er schwul wäre, wäre das schlimm?«, habe ich gefragt.
»Ja.«
»Wieso denn?«
»Naja, es ist eben nicht richtig.«
»Wieso ist es nicht richtig?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Also, ein Mann soll eine Frau lieben. Und sie sollen Kinder kriegen.«
Plötzlich saßen wir in einer kleinen Gruppe von fünf Jungs auf der Wiese, und das Bogenschießen war für einen Moment vergessen, als wir diskutierten, ob schwule Männer und lesbische Frauen nicht auch Kinder kriegen können, und wie das zum Beispiel mit der künstlichen Befruchtung funktioniert.
»Wir haben auch einen Bisexuellen an der Schule«, hat einer der anderen Jungs gesagt. »Der ist eigentlich ganz nett.«
Ich glaube, man muss den Kids gar nicht diktieren, was richtig und falsch ist, man muss nur nachhaken und den Raum für Gespräche geben.
Ich habe im Prinzip nur Fragen gestellt, und der Junge, der sich über den anderen lustig gemacht hat, hat gemerkt, dass die anderen seine Meinung gar nicht teilen. Und wenn von den fünf jetzt wirklich einer schwul war, dann weiß der jetzt auch, dass es für die meisten gar nicht schlimm ist. Und wenn keiner der Jungs schwul war, dann war es trotzdem wichtig, denn oft verstricken sich gerade heterosexuelle Jungs in problematischen Verhaltensweisen, um auf keinen Fall für schwul gehalten zu werden. Schwul wird dann gleichgesetzt mit »unmännlich«
Was ist denn überhaupt männlich und weiblich?
Eben. Man muss nicht schwul, lesbisch oder transgender sein, um von den bestehenden Geschlechterbildern betroffen zu sein. Was als männlich und was als weiblich gilt, das beeinflusst uns alle — es sind Bilder, denen wir nacheifern, an denen wir uns messen, uns verbiegen und scheitern. Wir werden nie aussehen, wie die mit Photoshop und Airbrush bearbeiteten Frauen und Männer auf den Werbeplakaten. Wir haben vielleicht eine Vorliebe für Kickboxen, oder hassen es shoppen zu gehen, auch wenn uns beigebracht wird, dass es für Frauen nichts tolleres gibt. Oder wir schauen gerne Liebesdramen und sind nah am Wasser gebaut, auch wenn Männer nicht weinen sollen. Letztendlich sind diese Bilder nichts als Quark, aus biologischer wie aus sozialer Sicht.
Es gibt eben genug Menschen mit ganz verschiedenen Chromosomen, mit verschiedenen Hormonen, Identitäten, Eigenschaften und Funktionen, die allesamt nicht in das binäre System von »männlich« und »weiblich« passen, wie wir es uns vereinfacht vorstellen.
Quelle: Crimethinc
Wie können wir erlebnispädagogisch mit dem Thema »Geschlechtsidentität von Kindern und Jugendlichen« arbeiten?
Wenn Jugendliche etwa bei Team Tasks zusammen an einer Aufgabe arbeiten, die sie nur gemeinsam lösen können, spielt es oft keine Rolle mehr, wer mehr Geld hat, wer besser aussieht, oder wer die besten Noten hat.
Ich denke, es ist unsere Aufgabe als Pädagogen *innen, die Kategorien, die Menschen an ihrer Entfaltung hindern, aufzulösen. Ich plädiere dafür, zu versuchen, die Kategorie Geschlecht in gleicher Weise aufzulösen.
Dabei geht es natürlich auch um unsere eigenen Geschlechterbilder.
Wenn wir einen Menschen mit einem für uns »männlichen« Körper sehen, welche Assoziationen haben wir, und was projizieren wir auf diesen Menschen? Gehen wir automatisch davon aus, dass Menschen, die wir als Jungs lesen, mutiger sind? Fordern wir sie auf, sich nicht so anzustellen, während wir die Mädchen fragen: »Bist du sicher, traust du dir das zu?«
Wenn wir eine Gruppe Kids auf uns aufmerksam machen wollen, rufen wir sie mit »Jungs« oder »Mädels« oder »Jungs und Mädels«?
Oder sagen wir einfach »Leute, jetzt hört mal bitte zu«?
Akzeptieren wir, wenn ein Kind, dass in unserer Liste als »Maik« steht »Julia« genannt werden will, ohne eine Erklärung zu verlangen?
Und spielen wir bei der Hausrallye »verkleidet die Jungs als Mädchen«? Oder erkennen wir an, dass solche Spiele potenziell toxische Rollenbilder verhärten?
Welche Spiele können wir spielen, die den Fokus von Geschlecht herunternehmen, oder sich produktiv damit auseinandersetzen?
Du hast das Magnus-Hirschfeld-Centrum erwähnt. Gibt es sonst noch Projekte, in denen Du aktiv bist?
Ich schreibe Bücher. Zuletzt ein Jugendbuch über Klima-Aktivismus, das ein erfolgreiches Crowdfunding hinter sich hat. Es heißt »Ökoterroristin« und hat drei weibliche Hauptcharaktere, die alle nicht dem stereotypen Bild eines Mädchens entsprechen. Mika ist durchsetzungsfähig, hat eine große Klappe und rasiert sich nicht die Beine. Nova ist ein Computergenie, macht Kampfsport, und fühlt sich zu anderen Mädchen hingezogen. Sana trägt Kopftuch, liebt Naturwissenschaften und ist überzeugte Feministin. In meinen Texten versuche ich, gegen die dominanten Stereotypen über Geschlecht und Herkunft zu schreiben, die Positionen von benachteiligten Gruppen zu stärken, sowie Repräsentationen von oft von der Bildflache verdrängten Menschen einzubringen.