Konstruktivismus und radikaler Konstruktivismus

Der (radikale) Konstruktivismus beschäftigt sich damit, eine Wissenstheorie ohne ontologische Basis zu formulieren. Er wird in dem Zusammenhang mit der Subjektiven Didaktik als Kognitionstheorie verstanden. Sein Kernthema sind die subjektiven Vorgängen der menschlichen Wahrnehmung und des Prozesses des Entstehens von Erkenntnis und Bewusstsein.
Die Theorien des radikalen Konstruktivismus beschäftigen sich mit der Frage, wie Wirklichkeiten zustande kommen. Dabei wird objektives Wissen in Frage gestellt und den Konstruktionen der Individuen zugeschrieben.
Wir konstruieren unsere Reliät
Konstruktivismus

Kernaussage

Seine Kernaussage besagt, dass es keine Beobachtung gibt, die unabhängig vom Beobachter ist. Wir müssen demnach die tradierten Vorstellungen von „absoluter Wahrheit“ und „Objektivität“ aufgeben. Daraus ergibt sich gewissermaßen die Notwendigkeit des permanenten Abgleichs der subjektiven Beobachtungen mit den Gebilden anderer Menschen. Nur so können wir zu einem stabilen Weltbild finden. Realität ist grundsätzlich ein subjektives Gebilde. Eben weil der Mensch außer seiner ihm zur Verfügung stehenden, subjektiven Möglichkeiten der Informationsverwertung keinen anderen Zugang zur Realität besitzt. Die Welt, wie sie erkannt wird, mit ihrer Varietät und Vielfältigkeit, ist das Ergebnis innerer Prozesse.

Das Adjektiv „schwer“ beispielsweise löst in jedem Menschen ähnliche, jedoch völlig verschiedene Vorstellungen hervor. „Schwer“ beschreibt möglicherweise für den Einen den Zustand eines großen Autos, für die Andere einen Stein im Vergleich zu einer Feder.  Für ein Kind können es die täglichen Mathematikhausaufgaben sein. Für eine Rentnerin der wöchentliche Einkauf, für Ihren Mann das Erlernen der Funktionen des neuen schnurlosen Telefons….

Mit der Wirklichkeit an sich jedoch – so sie existiert- werden wir nicht wirklich konfrontiert. Denn wir bilden unsere Erfahrungen mit Hilfe von Perzeptions- Systemen, die in unserer Gehirnstruktur angelegt sind. Einzelne Erkenntnisse müssen in diese Systeme hineinpassen, viabel sein.

Stabilität einer konstruierten Realität

Hieraus entwächst die drängende Frage: Wie kann uns eine Welt, konstituiert aus rein subjektiv erstellten Gedanken- und Informationsgebilden, im Ganzen überhaupt stabil erscheinen? Der Kognitionspsychologe Ernst von Glasersfeld löst dieses scheinbare Paradox folgendermaßen: „Wenn die Welt, die wir erleben und erkennen, notwendigerweise von uns selber konstruiert wird, dann ist es kaum erstaunlich, dass sie uns relativ stabil erscheint.“

Daraus erwächst die Frage nach Existenz und der Erkenntnismöglichkeit einer letzten, endgültigen und allgemeingültigen Realität. Diese ist mit der Grundaussage des radikalen Konstruktivismus relativ einfach zu beantworten: Wenn es keine Beobachtung gibt, welche unabhängig vom Beobachter ist, so ist jegliche Realität eine subjektiv konstruierte. So kommen wir also nicht an der Tatsache vorbei, dass die Welt, die wir kennen, darauf angelegt ist, sich selbst zu sehen.

KOnstruktivismus und Wahrnehmung

Um das aber zu können, muss sie sich natürlich aufspalten in mindestens einen Zustand, der sieht, und mindestens einen Zustand, der gesehen wird. Allein der Abgleich mit den konstruierten Realitäten anderer Subjekte ermöglicht ein temporär stimmiges und stabiles Weltbild. Eine letzte, objektive Gewissheit kann demnach nicht erfahren werden. Der Prozess der Abstimmung ist somit als ein empirisch- unphänomenologischer beschreibbar. Hieraus resultiert die Gewissheit, dass wir von der Wirklichkeit immer und bestenfalls nur wissen, was sie nicht ist. Der Mensch muss akzeptieren: Es gibt keine Gewissheit dafür, dass die Welt, die sich durch seine Wahrnehmung in seinem Wissen konstituiert, so ist, wie sie ohne den Menschen ist. Dies wird auch in der bekannten Frage nach dem umstürzenden Baume im Wald deutlich:

Fällt im Wald ein Baum, aber es ist niemand da, der das hören könnte. Hat es dann ein Geräusch gegeben?

Komoklexität der Wahrnehmung

Konstruktivismus und Erlebnispädagogik

Für die Erlebnispädagogik ist der Konstruktivismus in vielerlei Hinsicht besonders zu berücksichtigen. Zum einen erinnert er permanent daran: Die Realität des Einzelnen ist in der Schnittmenge der subjektiven Realitäten der einzelnen Gemeinschaftsmitglieder zu finden. Zum anderen, dass von einer Realität erst dann gesprochen werden kann, wenn dieser Abgleich stattgefunden hat. Und auf dieser Basis ein gemeinsamer Konsens gefunden ist. Davor existiert kein gemeinsames Ziel, nicht einmal eine gemeinsame bewusstes Bild davon. Ferner mahnt der Konstruktivismus den ständigen Abgleich und die Reflexion über alle Meinungen und deren Zustandekommen an. Ein Teammitglied, dessen Zielformulierung und Rollenverständnis des Teams „offensichtlich“ ist, und der davon ausgeht, dass die anderen Mitglieder die gleiche Vorstellung haben müssen, weil das „einfach so ist“, hat dem Team eine subjektive Meinung aufoktroyiert.

Und hiermit wird die Bildung einer gemeinsamen Realität auf Basis der Synthese der subjektiven Erfahrungen aller Teammitglieder verhindert. Der Konstruktivismus dient aber auch der Erinnerung an die Trainer*in. Ziehe keine voreiligen Schlüsse oder Folgerungen aus dem Verhalten oder den Äußerungen des Teams! Auch eine jahrzehntelange Erfahrung im Umgang und Training von Gruppen und Teams macht nicht allwissend. Einem Team vorschreiben zu wollen, was gut oder schlecht für es sei steht nur dem Team selbst zu. Auch hier hat das Suchen des gemeinsamen Konsenses oberste Priorität. Daher gilt bei unseren Klassenfahrten und allen anderen pädagogischen Settings der Grundsatz: „Erst einmal zuhören!“- Was wollt Ihr?“

Zum Autor

Leif ist nunmehr offiziell über die Hälfte seines Lebens in der Erlebnispädagogik unterwegs. In der zweiten Hälfte der ersten Hälfte (Studium) durfte er mitunter leidvoll erfahren, dass es mehr Bücher als Zeit gibt. Daher und um dieses Verhältnis für die Nachwelt wieder zu ändern schreibt er hochambitioniert Zusammenfassungen von Zusammenfassungen. Und hofft dass deren Essenz dennoch erhalten bleibt…

Leif Cornelissen, Diplom- und Erlebnispädagoge