Erlebnispädagogik und die Zeit

 von Sarah Neuberger

Erlebnispädagogik und die Zeit

Zeit. Was ist das eigentlich genau?
Und was bedeutet „Zeit“?
Und – was konkret oder auch nicht konkret bedeutet Zeit für Dich?
Zeit, ein Wort, das jeder kennt und nahezu täglich mindestens einmal benutzt. Vielen ist es zu wenig Zeit, die sie haben. Anderen rennt sie durch die Finger. Wieder andere lassen anderen eben diese nicht und manchen vergeht sie gefühlt irgendwie nie und dann soll sie sich doch bitte ein bisschen beeile.
Zeit, so heißt es, heilt alle Wunden, bei Zeiten wird man den Preis für das Warten und Arbeiten bekommen, kommt Zeit kommt Rat. Und leider bedeutet oft Zeit auch Geld.
Wir alle benutzen und kennen Zeit. Und die Auswirkung ihrer, positiv wie negativ, je nach individueller Situation.

Zeit braucht es auch, um Beton oder Fugenmaße trocknen zu lassen, Zeit braucht es für Heilung und Genesung, Zeit braucht es, um Dinge oder Situation anzunehmen und zu verinnerlichen, Zeit braucht es – damit eine gute Basis da ist, um in vielfältiger Weise zu wachsen.

Was bedeutet Zeit?

Und Zeit, das ist das seltene Gut, was es heutzutage fast nicht mehr selbstbestimmt und frei zu einteilen gibt. Zeit ist oft was Familien fehlt, was Schüler brauchen um Lehrinhalte zu integrieren. Zeit fehlt auch oft Fachkräften, weil Kollegen krank sind oder Termine einfach viel intensiver waren, wie geplant. Sich Zeit nehmen, sich Zeit gönnen, sich Zeiten nehmen, all das und mehr wird seit Jahren im kommerziellen Sinne gepriesen und mit mehr oder weniger hippen Tätigkeiten verknüpft.

Zeit und die Erlebnispädagogik
Zeit im Blick der Wissenschaft

Zeit, das sagen auch Professor Dr. Gerald Hüther und André Stern Sohn von Arno Stern, dem renommierten Kunstpädagogen und Erschaffer des Malortes, ist das, was wir unseren Kindern schenken sollten, Zeit mit Werten und Bedeutung, statt materielle Anhäufungen von diversen Firmen. Oder mit mehr oder weniger vielen Hintergedanken, Schuldgefühlen oder aus Mangel an Zeit für die Kinder.

Zeit, mit Werten und Bedeutung, Raum und Fähigkeit, das dort erfahren für sich zu adaptieren ist es, was wir alle und unsere Kinder brauchen – mehr denn je. Zeit ist kein verführendes, kaufbares Gut, Zeit ist mit das kostbarste, was man Menschen schenken kann.
Zeit braucht es, und hat es auch verdient, um Kraft und Zuversicht zu vermitteln für das, was kommt, und für dass, was benötigt wird, um zu bewältigen, was ansteht.
Zeit braucht es um zu entdecken, zu erforschen, zu erfahren, zu experimentieren. Zeit braucht es, um die Potentiale in uns zu erkennen, in anderen zu fördern, in uns selbst zu stärken und entfalten zu können.

Zeit bedeutet auch Raum für Konflikte, für Gespräche, für Selbstfindung, für Trauer, Schmerz und Kummer zuzulassen. Zeit bedeutet nicht eine Anzahl von Sekunden oder Minuten, Zeit ist auch Prozess, Verarbeitung, da sein, zuhören.
Zeit ist auch Vorbild sein und bestärken, Zeit ist Sehen und gesehen werden. Zeit ist Anerkennung geben, Wertschätzung zeigen, sich auf Situationen einlassen.
Die Früchte einer Zeit, die man aufrichtig und bewusst einem Menschen gab, spricht die Sprache, die jeder versteht – leichtende, berührte Augen.

Was Zeit kann…

Zeit ist etwas, dass du mit keinem Geld der Welt kaufen kannst, wenn sie einmal vorbei ist….
Sie ist das, was wir den Schülern mit unserem Setting auf den Schullandheimen geben.

Zeit ist das, was sie bekommen, weil die Umgebung sie automatisch reizreduziert und so den Weg auf die eigenen Bedürfnisse fast mühelos machbar macht.
Sie ist das, was wir manchmal auch provozieren, indem wir uns mit Antworten Zeit lassen oder die Kinder Antworten finden lassen.
Zeit ist das, womit wir „arbeiten“. Und Zeit ist es, die diese wunderschönen Erlebnisse schafft. Zeit macht es möglich, dass die Kinder mal einfach machen können oder auch nicht, Zeit ist es, die sie bekommen um einander mal ohne Termindruck kennenzulernen, Zeit ist es die wir ihnen geben, um Krisen und Konflikte fundiert zu lösen.
Zeit ist es, die Tränen der Rührung und des Drucks laufen zulassen, Zeit ist es die am Lagerfeuer Lieder klingen lässt und Seelen berührt.

Erlebnispädagogik und die Zeit- Vergänglichkeit und Präsenz!

Zeit ist es, die die Gespräche in der Küche ermöglicht und die Nöte ans Licht bringt, Zeit ist es, die das zarte Band des Miteinanders stärken lässt. Etwas Zeit braucht es damit Lehrer plötzlich sehen, was noch in ihren Schülern steckt. Zeit ist es, die einem bewusst werden lässt, daß man Scheuklappen trug und im Stress war. Und Zeit, das lehrt uns die gegenwärtige Situation, ist es die wir brauchen, wir alle, um gesund und stabil an Situationen zu wachsen.
Sie lässt auch erhitze Gemüter auskühlen, Zeit findet auch Worte des Herzens.

Meine Oma sagte früher immer, wenn ich Briefe schrieb, dass sie eine Nacht unter dem Kopfkissen liegen sollen und erst dann auf Reise gehen. Dass es manchmal Zeit braucht, um die richtigen Worte zu finden und zu schnelles Handeln auch viel Schaden anrichten kann.

Was Zeit bedeutet...
Was Zeit noch ist…

Zeit ist auch Raum und Sein.
Sie bedeutet auch Wertschätzung und Zuwendung.
Zeit ist leise, und manchmal laut, Zeit ist nah sein und Grenzen respektieren.
Zeit, das ist unser Fundament unserer Arbeit.
Sie ist messbar und gleichzeitig auch nicht. Denn Zeit, gelesen auf einer Uhr oder bemessen am materiellen Wert, ist nicht das, was unsere Zeit ausmacht.
Zeit, die für uns wichtig ist, ist die Zeit der Prozesse und der Integration dieser. Zeit in unserer Arbeit ist das, was oft lange nach den Schullandheimen Früchte trägt und vielleicht auch gar nicht mehr mit dem Gespräch aus der Küche zusammengefügt wird.

Zeit ist es, die aus einem gut gesäten Samen Früchte werden lässt.
Aber Zeit ist auch das, was vielen Menschen nicht gegeben wird, obwohl es so wichtig wäre. Zeit ist es, die den Kindern fehlt, um in ihrem Tempo zu wachsen. In ihrem Tempo zu lernen, in ihrem Tempo zu sich zu finden.

Wenn die Zeit drückt….

ZeitDRUCK ist es, der aus ihnen macht, was von ihnen abverlangt wird. Zeitdruck ist kein Geschenk, dass wir in Menschen hinterlassen, die wir lieben und wachsen sehen wollen, Zeitdruck ist das was dazu führt, dass manches in unserer Umwelt so zerschunden und verletzt aussieht, so mitgenommen und verwüstet hinterlässt. Zeitdruck lässt uns alle kleine und große Fehler machen, Dinge übersehen, und unsere Wahrnehmung reduzieren. Zeitdruck löst auch Angst aus, und Angst als Motor ist keine gute treibende Kraft, Angst als Schutz ist richtig und wichtig, lässt unwichtiges ausblenden und alles steht auf maximal überleben.

Aber ist es das, was unsre Kinder verdienen, die uns anvertraut werden oder von uns sind, dass wir vor lauter Zeitdruck ihre wichtigen Momente und Entdeckungen übersehen? Ihre Gefühle überrennen und abtun, weil uns die Zeit fehlt hinzusehen, hinzuhören?

Zeit ist es, die wir alle in Zeiten einer Pandemie geschenkt bekommen haben.

Zeit mahnt uns unserer Vergänglichkeit

Zeit, die uns in den gefühlten Wahnsinn trieb, uns auf unsere Ängste und unterdrückten Gefühle aufmerksam machte.
Zeit, um auf uns gelenkt zu werden, auf die Familie, die Beziehung, die eigenen Bedürfnisse und Missstände.
Es braucht Zeit, um aus Nöten Lösungen zu generieren. Zeit ist es, aus der die tollen Erinnerungen entstehen, die uns ein Leben lang tragen.
Zeit ist es, die den weniger tollen Erinnerungen die Möglichkeit geben, andere zu erschaffen.
Zeit ist es, was die Pädagogik und Nachhaltigkeit eines erlebnispädagogischen Settings ausmacht. Zeit ist es, die zwischenmenschliche Momente nachhallend prägt.

Danke, für deine Zeit, diesen Artikel zu lesen. Vielleicht kannst du dir die Zeit nehmen und geben, über deine Zeit und was dir Zeit bedeutet nachzudenken.

Zur Autorin

Dieser Artikel aus unserer Rubrik Praxis Erlebnispädagogik entstammt der Feder unserer langjährigen Mitarbeiterin und Trainerin Sarah Neuberger, die, wenn nicht grade für uns unterwegs, für die Waldfreunde Hahnstätten tätig ist. Sarah ist Sozialarbeiterin, Wildnispädagogin und Erlebnispädagogin.

Erlebnispädagogin Sarah Neuberger