Perturbation oder wie Erlebnispädagogik wirkt…

Es gibt wohl keinen Begriff der bei den Teilnehmenden unserer Ausbildungsgruppen mit so großer Erleichterung aufgenommen wird. Der Begriff der Perturbation. Und zwar deshalb, weil er einen kaum beschreibbaren Zustand greifbar macht und erklärt. Und das bedeutet dann wiederum, dass der Zustand wohl doch gewollt und vor Allem „irgendwie normal“ ist. Dem ist so!
Aber Eins nach dem Anderen:
Wissenschaftlich: Der Begriff Perturbation entstammt dem Jargon der beiden Neurobiologen Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela. Deren Buch „Der Baum der Erkenntnis“ beschreibt eine systemische Theorie lebender Systeme. Perturbation bezeichnet darin einen Strukturwandel auslösenden Reiz aus dem Umfeld, dem Milieu eines Systems (Mensch!)

Perturbationen sind gezielte Störungen
Die Schüttelkugel steht bei N.E.W. für das Perturbationsmodell

Perturbation und Erlebnispädagogik

Erlebnispädagogische Settings bedeuten im Wesentlichen eines: Veränderung. Eine Gruppe oder ein Mensch begibt sich an die Grenzen des Sicheren, Bekannten oder Komfortablen. Damit betritt Mensch neues Terrain. Und dann kommen da noch die Erlebnispädagog*innen und sorgen dafür, dass hier gewohnte (Verhaltens-) Muster oder Handlungsstrategien nicht mehr greifen.  Oder funktionieren. Indem sie „perturbieren“- also in das Setting kleine Stolpersteine oder „positive Störungen“ einbauen.  Diese sorgen dafür, dass sich das System, also der Mensch oder die Gruppe neu orientieren und organisieren müssen. Stolpersteine können beispielsweise Tabus oder modifizierte Kommunikationsstrategien sein. Oder auch die Konfrontation mit den eigenen oder fremden Ängsten. In jedem Fall wird am System „gerüttelt“ und Veränderungen werden provoziert.

Vereinfachtes Bespiel wäre eine Teamaufgabe, in dem die Erlebnispädagog*innen die gewohnten Kommunikationsstrukturen unterbinden, indem die verbale Kommunikation untersagt wird. Damit haben möglicherweise die „leisen“ Teilnehmer*innen plötzlich eine neue Chance gesehen und wahrgenommen zu werden. Kreative Menschen haben plötzlich die Möglichkeit sich „Gehör“ zu verschaffen indem neue Kommunikationswege gefunden werden. Sonst eher dominante und lautere Teilnehmer *innen werden zu Zuhörer *innen weil Ihnen die Stimme fehlt. Vielredner*innen werden ausgebremst, es entsteht eine neue Kommunikationsebene. Und damit birgt diese „Störung“ eine Chance. Nämlich die eines Aha- Effekts der dann auch nach der Übung Spuren in der Team- Kommunikation hinterlässt. Soweit die Theorie…

Die Realität

Zugegeben: So einfach haben wir es selten, aber sowas kommt vor…
Perturbation geht aber auch noch viel subtiler und unmittelbarer. Zum Beispiel:
Ein/e Teilnehmer*in kommt von einem Erlebnispädagogischen Ausbildungswochenende nach Hause und findet sich in einer mittelfesten Krise wieder. Der Boden unter den Füßen fehlt, irgendwie. Der Job (war vorher schon irgendwie nicht so recht das Gelbe vom Ei) ist einfach nur anstrengend. Die vorher so komfortabel eingerichtete Lebensrealität wirkt grau und lieblos. Bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit wird Mensch von emotionalen Groß- Attacken gebeutelt. Und immer wieder poppt die Frage auf:“ Was zum Henker mache ich hier eigentlich?“
Willkommen im Stadium der völligen Perturbation!
Und ja, lustig ist das meist erstmal so gar nicht. Dieser Zustand kann ganz schön beängstigend sein.

Krisen sind Chancen zum Wachstum

Plötzlich werden tradierte Lebensgewohnheiten, Einstellungen und Werte hinterfragt, neu bewertet, manchmal gar völlig negiert. Und das nach 3 Tagen EP im Grünen? Was soll denn hier so gerüttelt haben?

Erlebnispädagogik wirkt durch Perturbation

Wirkfelder

Na zum Beispiel die Einfachheit des Settings. Die Reduktion der alltäglichen Reizüberflutung. Weniger Technik- Krimskrams bis hin zur völligen Smartphone-Abstinenz. Viel Bewegung, Besinnung auf das Wesentliche, natürliches Essen, frische Luft, das den- Elementen-Ausgesetzt sein. Offene, ehrliche Kommunikation. Der Austausch mit Geleichgesinnten sowie authentische Kontakte, Emotionen, Berührungen auf körperlicher wie seelischer Ebene. Meditative oder musikalisch- gesellige Momente am Lagerfeuer. Das gemeinsame Erleben in einer Gruppe vorher fremder Menschen. Der Sternenhimmel, das gemeinsame Essen in der viel zu kleinen Hütte, die Nacht im Schlafsack neben vielen Gleichgesinnten. Das gemeinsame Singen, Lachen, Spielen, Grasflecken sammeln, das Baden im Wasserfall. Das Ablegen der eigenen Masken und Alltagsrollen, das Gesehen-werden, das Hinterfragen eigener Vorurteile, die Besinnung auf sich selbst. Zum Beispiel…

Und sehr oft die Erkenntnis, dass es zum glücklich sein gar nicht so viel braucht…
In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf unsere Wirkfelder der Erlebnispädagogik verweisen, denn es ist nicht so dass wir Erlebnispädagog*innen hier den Zauberstab schwingen und Schwups sind alle perturbiert, nein, es ist vielmehr so dass eine Vielzahl von Faktoren auf dieses Setting und die Individuen einwirken und letztendlich dafür sorgen, dass an individuellen Themen und Wahrheiten gerüttelt wird. Unser Setting ist letztendlich lediglich eine geschützte Lernwelt, in der sich die Teilnehmer*innen frei tummeln dürfen.

Zum Autor

Leif ist nunmehr offiziell über die Hälfte seines Lebens in der Erlebnispädagogik unterwegs. Kennt sich also demnach mit dem Zustand des „Perturbiertseins“ prima aus. Genau genommen liegt darin sogar seine Hauptmotivation!

Leif Cornelissen, Diplom- und Erlebnispädagoge