Systemtheorie oder die Theorie lebender Systeme

Der Subjektiven Didaktik und damit auch unserer Pädagogik liegt ein systemischer Ansatz zugrunde, welcher vor allem in der vorliegenden Form durch die chilenischen Neurobiologen Maturana und dessen Schüler Varela geprägt ist. In deren gemeinsamen Werk „Der Baum der Erkenntnis“ wird die Organisation lebender Systeme in Bezug auf die menschliche Erkenntnis dargelegt.
Die Theorie lebender Systeme ist eine Modellbeschreibung der Zusammenhänge vom kleinsten Teilchen bis zum Universum. Handelnde Subjekte (wir Menschen) werden als lebende Systeme verstanden, welche in einer bestimmten Umwelt (Setting) existieren. Diese Umwelt wird als Milieu bezeichnet. Grundsätzlich sind alle Systeme milieuabhängig, d.h. sie können nur in einem bestimmten Milieu existieren. Beispielsweise benötigt der Mensch die Umwelt des „lebensfreundlichen“ Planeten Erde. Auf dem Mond ist Mensch nur unter größten Schwierigkeiten und dem Einsatz eines immensen technischen Materiallagers für einen eingeschränkten Zeitraum existenzfähig. Lebende Systeme sind mit diesem Milieu in einer wechselseitigen Abhängigkeit bzw. gegenseitiger Einflussnahme verbunden.

Systemtheorie
Milieuabhängigkeit

Diese Milieuabhängigkeit beschränkt sich jedoch nicht ausschließlich auf die Überlebensfähigkeit der Systeme. Sie beeinflusst sie auch bezüglich ihrer Entscheidungen, Stimmungen, Emotionen etc. Der elementare Gedanke der allgemeinen Systemtheorie ist die Vernetztheit geschachtelter Systeme. Salopp formuliert: Alles ist mit allem auf irgendeine Art und Weise verbunden.

Dies erscheint innerhalb des Systems „Mensch“ mit seinen Mikrosystemen wie z.B. den Gliedern, Organen, Zellen, Atomen usw. noch sehr plausibel. Das Verstehen komplexerer Prozesse in Kongruenz zur Größe des betrachteten Systems wird aber wesentlich diffiziler. In einer Gruppe von Menschen sind gruppendynamische Prozesse weitaus schwerer vorhersehbar als der Verlauf der Beziehungen zwischen zwei Menschen. Die Möglichkeit, dass eine einzige Person die Stimmung oder die Emotionen einer ganzen Arena beeinflussen kann, ist nicht von der Hand zu weisen. Dies kontrolliert oder gezielt zu inszenieren ist nie mit absoluter Wahrscheinlichkeit vorhersagbar. Es gibt demnach keinen vollendeten Determinismus im Universum. Viele Dinge laufen eben einfach so unvorhersehbar wie eine Roulettkugel.

Eigenschaften lebender Systeme

Der systemische Ansatz schreibt lebenden Systemen bestimmte Eigenschaften zu, welche sie als solche kennzeichnen und charakterisieren. Dazu gehören das Konzept der Autopoiese, Strukturdeterminiertheit und Selbstreferentialität. Diese Eigenschaften werden im Folgenden kurz erläutert.

Theorie lebender Systeme
Autopoiese und Autonomie

Das entscheidende Charakteristikum lebender Systemen ist ihre autopoietische Organisation. Damit ist ihre grundsätzliche Autonomie gemeint. Ein System ist demnach dann autonom, wenn es dazu fähig ist, seine das ihm eigene selbst zu spezifizieren. Mit Autopoiese ist des Weiteren die Eigenschaft gemeint, sich selber aus einer inneren Dynamik heraus und relativ unabhängig von der Umgebung zu erhalten und zu verwirklichen. Das System ist also für seine Erhaltung und Erneuerung selbst zuständig. Einfachstes Beispiel ist die permanente Zellerneuerung bei lebendigen Wesen.  Diese wird vom Organismus selbständig und autonom geregelt. Autopoiese kann demnach als „Selbst- Machen“ oder „Selbst- Erhalten“ verstanden werden. Ein lebendes System wird durch die Fähigkeit charakterisiert, die Elemente, aus denen es besteht, selbst zu produzieren und zu reproduzieren und dadurch seine Einheit zu definieren. Jede einzelne Zelle ist das Ergebnis eines Netzwerks interner Vorgänge des Systems.

Strukturelle Koppelung

Die Verbindung von System und Milieu kann als strukturelle Koppelung verstanden werden. Das System ist milieuabhängig, wobei auch das Milieu vom System beeinflusst wird. Lebewesen und Milieu wirken für einander als gegenseitige Quelle von Störungen. Und diese wiederum können beim jeweils anderen System Zustandsveränderungen auslösen. Dieser Prozess wechselseitiger Strukturveränderungen wird als strukturelle Koppelung bezeichnet. Ein Fisch in einem Aquarium kann als ein solches System verstanden werden. Das ihn umgebende Wasser ist in diesem Fall als Milieu. Der Fisch beeinflusst dieses Wasser durch sein natürliches Verhalten, er frisst möglicherweise Parasiten oder Algen und scheidet Exkremente aus. Mit allen diesen Aktivitäten beeinflusst er die Wasserqualität, also sein Milieu. Dieses wiederum hat durch unterschiedliche Faktoren Einfluss auf den Fisch: Temperatur, Qualität, Nahrungsreichtum etc..

Strukturelle Koppelung in der Theorie lebender Systeme
Selbstreferentialität
Selbstreferentialität

Autopoietische Systeme sind energetisch offen, organisatorisch jedoch geschlossen und selbstreferentiell. Die materielle und energetische Offenheit wird bei lebenden Systemen beispielsweise durch die Energiezufuhr durch Nahrungsaufnahme deutlich. Auch Energie wie z.B. Wärme wird aufgenommen und kann genutzt, entsprechend jedoch auch an die Umwelt abgegeben werden. Diese Offenheit bezieht sich jedoch lediglich auf die Struktur der Systeme. Ihre Organisation selbst bleibt lebenslang gleich und ist geschlossen, wie lebendige Systeme auch im Ganzen als geschlossene Systeme beschrieben werden. Durch einen Systemrand grenzt sich das System von seinem Milieu ab, ist aber dennoch in der Lage, durch die energetische Offenheit mit ihm in Kontakt zu stehen.

Das Prinzip der Selbstorganisation

Lebende Systeme organisieren sich selbst. Das bedeutet, sie organisieren Prozesse, die aus sich selbst heraus entstehen, also nicht von außen aufgezwungen werden. Aus inneren Konstellationen und Zuständen entstehen dem Individuum gemäße und aus ihm selbst entspringende Ordnungen. Systeme können sich demnach entsprechend ihrer Organisation selbst ändern. Und dies ohne externe Eingriffe.
Dies bedeutet für die Arbeit mit Gruppen, dass nicht Intervention, sondern Begleitung die Selbstverwirklichung der Individuen in einer Gruppe gewährleistet. Die Gruppe modelliert sich gemäß ihrer Bedürfnisse, Vorstellungen und Grundvoraussetzungen unter Berücksichtigung der aktuellen Situation aller Mitglieder selbst.

Strukturdeterminiertheit

Lebende Systeme sind strukturdeterminiert, d.h. durch ihre eigene Struktur festgelegt. Zwar ist diese Struktur eines autopoietischen Systems generell offen für Veränderung, diese Veränderung kann vom Milieu lediglich ausgelöst, jedoch nicht von außen determiniert werden. Nur das jeweilige individuelle System selbst bestimmt den Grad der Veränderung. Didaktisch bedeutet dies, dass keine linear- kausale Planung zum gewünschten Ergebnis einer Verhaltensänderung führt. Benötigt wird ein angemessener Anreiz, welcher das System dahingehend bewegen soll, sein Verhalten zu überdenken (Perturbation). Und demzufolge die eigene Struktur zum selbsterkannten eigenen Vorteil zu verifizieren. Dabei muss der Anreiz so gewählt werden, dass er weder Über- noch Unterforderung beim System hervorruft. Er muss jedoch von subjektivem Interesse für das System sein.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Eine willkürlich zusammengestellte Gruppe von 10 Personen soll zum produktiven Team werden. Schon vom Ansatz her falsch gewählt wird hier einer Gruppe der Teamgedanke aufoktroyiert. Die Mitglieder sollen – möglicherweise wider Willen- in ein funktionierendes Arbeitsteam „gepresst“ werden. Möglicherweise kommen zusätzlich erschwerend zwischenmenschliche Probleme und völlig unterschiedliche Arbeitsauffassungen hinzu. Mit Druck und Drohungen dürfte diese Gruppe kaum zur solidarischen Zusammenarbeit als Team zu bewegen sein. Wirkt jedoch eine Perturbation im mittleren Stimulibereich auf alle Gruppenmitglieder ein, und kann jedes Mitglied einen subjektiven Vorteil in der gemeinsamen Arbeitsform „Team“ erkennen und somit auch die Notwendigkeit einer Verhaltensänderung bezüglich der anderen Teammitglieder, so wird dies langfristig die effektivere Lösung sein.

Was bedeutet Systemtheorie für den pädagogischen Alltag?

Hier wird zugleich eine der wichtigsten Aussagen der Subjektiven Didaktik deutlich: Wenn es sich bei den Lernenden um autopoietische und operational geschlossene Systeme handelt, kann es nur darum gehen, anregende Lernumgebungen zu schaffen. Dies bedeutet, möglichst vielversprechende und dem Subjekt entsprechende Anreizstrukturen herzustellen, um Perturbationen zu ermöglichen. Nur wenn ein solches System einen Sinn darin erkennt, auf eine Perturbation zu reagieren wird es dies tun. Und nur wenn es eine bejahende Haltung einnimmt, ist eine nachhaltige Neuorganisation der Struktur überhaupt erst möglich.

Selbstorganisation

Zur Theorie sozialer Systeme

Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann entwickelte in den 60er Jahren auf der Basis von Talcott Parsons strukturell- funktionaler Theorie die Theorie sozialer Systeme. Dabei unterscheidet Luhmann drei Arten sozialer Systeme: Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme.
Ein Beispiel für ein Interaktionssystem wäre das Verkaufsgespräch eines Autohändlers mit einem Kunden. Das Innen des Systems umfasst dabei das Verkaufsgespräch, den Verkauf des Autos und die Übergabe des Wagens. Alles, was sich um den Verkaufsraum herum abspielt ist das Milieu, also das Äußere. Das Interaktionssystem ist beendet, wenn der Kauf getätigt wurde, und die Handelspartner ihrer Wege gehen.

Organisationssysteme sind beispielsweise Sportvereine. An die Mitgliedschaft in einem solchen System sind bestimmte Bedingungen wie z.B. Mitgliederbeitrag, Anerkennung der Vereinsstatuten etc. geknüpft. Auch finden sich unterschiedliche Rollen und Funktionen innerhalb dieser Systeme. So gibt es Spieler, Trainer, Vorsitzende etc. Das Innere dieses Systems ist des weiteren durch interne Handlungsabläufe gekennzeichnet, die mit dem Milieu des Systems nicht übereinstimmen. Die unterschiedlichen Funktionen der im Organisationssystem organisierten Mitglieder gelten lediglich innerhalb des Systems, und nur unter anderen Mitgliedern. So hat der Schiedsrichter das Recht und die Macht, während eines Trainingsspiels über die Regeln bzw. deren Auslegung zu Verfügen. Und somit natürlich maßgeblich über Sieg und Niederlage mitzuentscheiden. Diese Rolle steht ihm außerhalb des Organisationssystems nicht zu.

Interaktions- und Organisationssysteme

Alle Interaktions- und Organisationssysteme sind Teil des größten sozialen Systems, des Gesellschaftssystems. Dieses ist wiederum kein Interaktionssystem, da alle Menschen zur Gesellschaft gehören, auch wenn sie sich gerade nicht miteinander in Interaktion befinden. Es ist und kein Organisationssystem, da an die Mitgliedschaft im Gesellschaftssystem keine formalen Bedingungen geknüpft sind.
Soziale Systeme werden auch nach Luhmann als autopoietische, selbstreferentielle Systeme verstanden.
Der kleinste Bestandteil sozialer Systeme sind Kommunikationen. Diese bestehen aus Mitteilung, Information und Verstehen.
Somit muss hier unterschieden werden zwischen einer Mitteilung und einer Information: Die Mitteilung und ihr Informationsgehalt muss als solche Information verstanden werden. Ohne Verstehen kann die Kommunikation sich nicht realisieren, nicht beobachtet werden. Sie bleibt eine Wahrnehmung.

Die autopoietische Funktion sozialer Systeme

Um sich zu erhalten und zu erneuern müssen sich Systeme permanent reproduzieren. Was die Pflanzenzelle im biologischen Sinne mit der ständigen Produktion notwendiger Stoffe (Photosynthese) betreibt, ist die permanente Anknüpfung von Kommunikationen in sozialen Systemen.

Soziale Systeme bestehen nur durch fortwährende Anknüpfung von Kommunikation an Kommunikation. Unterhalten sich beispielsweise zwei Menschen, und einer der beiden versinkt während diesem Gespräch in einen Tagtraum oder findet keine Anknüpfungsmöglichkeiten seiner Kommunikationen an die seines Gesprächspartners, so besteht die Gefahr, dass diese beiden Menschen einfach auseinandergehen und somit das soziale System, das sie gebildet hatten, aufgelöst wird. Nach Luhmann gibt es ohne Kommunikation keine menschlichen Beziehungen und sogar kein menschliches Leben.
Auch Teams sind soziale Systeme. Ein Team weiter zu entwickeln würde nach Luhmanns Theorie also bedeuten, die Kommunikationsfähigkeit im sozialen System zu verbessern. Es ginge also darum, alle im System beteiligten Personen zu befähigen, anknüpfbar miteinander zu kommunizieren.

Kommunikationsfähigkeit

Kommunikationsfähigkeit ist demnach ein Hauptaspekt, der in der Arbeit mit Gruppen zu berücksichtigen ist. Mobbing und Bullying sind eindrucksvolle Beispiele von nicht vorhandener oder schlechter Kommunikation an Arbeitsplätzen. Missverständnisse sind oft Resultat von unzureichendem Informationsfluss oder zu ungleichen Kommunikationsstrukturen. Die führt wiederum zu Streit und Ärger. Dass solche Gegebenheiten eine Gruppe, ein Team oder ein soziales System lähmen, blockieren oder gar zerstören können, liegt auf der Hand. Nur dort, wo eine offene und ehrliche Kommunikation ermöglicht ist, können Missstände direkt beseitigt, Meinungsverschiedenheiten diskutiert und Konflikte sauber gelöst werden.

Zum Autor

Leif ist nunmehr offiziell über die Hälfte seines Lebens in der Erlebnispädagogik unterwegs. In der zweiten Hälfte der ersten Hälfte (Studium) durfte er mitunter leidvoll erfahren, dass es mehr Bücher als Zeit gibt. Und dann gibt es die Themen (wie die Systemtheorie) mit denen Mensch auch ganze Leben verbringen kann. Mitunter auch ohne sie immer ganz zu verstehen 🙂 Die Systemtheorie(en) in 1200 Wörter zu pressen kann demnach eigentlich nicht funktionieren. Und genau das war der initiale Ansporn… Denn ganz frei nach Luhmann: Nix geschrieben ist halt noch weniger!

Leif Cornelissen, Diplom- und Erlebnispädagoge