Über die Echtheit von blutigen Schrammen, Corona, dem Wildschweinzahn und dem Tod, der nicht mehr lauern darf.
… eine etwas andere Auseinandersetzung mit der aktuellen Thematik und dem Leben mit Corona.
Blutige Schrammen
„Geht raus, seid wagemutig und kommt mit einer blutigen Schramme wieder zurück!“ Mit dieser provokanten Aussage von mir als Erlebnispädagoge an eine imaginäre Gruppe von Kids oder Jugendlichen oder Erwachsenen, steige ich gerne in ein Lagerfeuergespräch mit unseren Ausbildungsgruppen ein.
Damit schüre ich quasi die Gedanken und Emotionen der Ausbildungs-teilnehmer*innen zu einer Thematik rund um das Thema: „Wozu machen wir eigentlich Erlebnispädgogik“.
Übrigens, Abends am Lagerfeuer sitzend ist das unsere liebste Form, in die Theorien zur Erlebnispädagogik einzutauchen.
„Ich freue mich fast schon als Erlebnispädagoge, wenn es zu kleineren Verletzungen kommt oder etwas Blut fließt“, sag ich dann. Und wenn sich dann auf einigen Gesichtern leichtes Entsetzen breit macht und die Frage aus dem Gesicht abzulesen ist, ob die Ausbildungsleitung jetzt ganz abdreht, lege ich noch eins nach und erzähle von einer Geschichte als ich vor Jahren mit einer fünften oder sechsten Klasse auf einer erlebnispädagogischen Klassenfahrt war.
Widerstand, Wildschweinzahn, Wirklichkeit!
Ein Schüler der Klasse ging von der ersten Minute an in den Widerstand und auch mich ließ er mit all meiner Pädagogik auflaufen. Ich nenn ihn mal David. Ich war ein wenig verzweifelt, es war der erste Tag, aber auch Geduld und freundliches Zureden halfen nichts bei David. Es brauchte eine Planänderung und ich bekam ein wenig Aufmerksamkeit von ihm, als ich spontan eine Aktion vorschlug: „Wer kommt mit auf die Geradeaustour?“ Ich erklärte die Methode: Gegenüber vom Hauseingang würden wir kerzengerade den Steilhang hochgehen, komme was wolle. Und auch noch dem leichten Regen zum Trotz. Natürlich winkten fast alle Schüler*innen kopfschüttelnd ab, bis auf vier Jungs und…David! Wir gingen los und im Schwarzwald bedeutet „steil“ wirklich steil. Teilweise war es so steil, dass wir uns gegenseitig helfen mussten. David trottete als letzter hinter uns her und war ziemlich am Fluchen, weil es anstrengend war und er die Sinnhaftigkeit nicht ganz verstand. Nach einer Zeit kamen wir mitten im Wald zu einer uralten Steinmauer, was die Jungs ziemlich faszinierte. Und da ja unser Ziel immer geradeaus lag, begann einer der Schüler, die alte Mauer zu erklimmen…
…bei der Aktion löste sich ein Stein und ein anderer Junge wurde davon am Knöchel getroffen und schrie laut auf. Ich hatte im Kopf sofort die Rettungskette, Erste Hilfe Maßnahmen und Verantwortungsthemen gleichzeitig am Laufen. Es kroch leicht Panik in mein System, erste Rechtfertigungssätze gegenüber möglichen Elternbeschwerden wurden vorformuliert, während ich begann, den verletzten Jungen zu untersuchen.
Es sah zum Glück nur nach einer heftigen Prellung aus, aber es war klar, dass wir den Verletzten transportieren mussten. Ich erspar euch die Details der Rettungsaktion, aber wir als Gruppe brachten den verletzten Jungen gemeinsam wieder den Hang runter.
Der Moment des Unfalls brachte die Wende bei David! Später erzählte er mir, dass er in dem Moment begriff, dass das, was wir hier mit den Schüler*innen machen und unternehmen, „echt“ ist. David war plötzlich Feuer und Flamme, war mitten drin beim Rettungstransport und das Eis zwischen uns beiden war auch gebrochen. An der Unfallstelle fanden wir noch einen Hauer von einem Wildschweingebiss, in der Eile steckte ich diesen schnell ein. David hatte eine sehr gute Zeit und am Ende der Woche nahm ich ihn noch kurz zur Seite und gab ihm diesen Wildschweinhauer, den ich an ein Lederhalsband geknüpft hatte. Mit etwas Tränen in den Augen verabschiedeten wir uns voneinander.
Die Echtheit der Erlebnispädagogik
Dieser Wandel von gegenseitiger Ablehnung zu einer fast schon liebevollen Wertschätzung lässt natürlich jedes sozialpädagogische Herz höher schlagen, doch darum geht’s mir bei der Geschichte nicht.
Es geht mir um die Echtheit, die David erkannte. Und hier sehe ich eine verdammt hohe Verantwortung der Erlebnispädagogik: Menschen in Echtheit zu bringen!
Deshalb mein Wunsch nach kleinen Verletzungen am besten mit etwas Blut, weil die rote Farbe des Blutes uns noch immer im urnatürlichsten Sinne „anspricht“. Weg von der Menstruationsbindenwerbung, in der das Rot der Regelblutung durch blaue Farbe ersetzt wird.
Und unabhängig von dieser Verletzungskiste geht es uns natürlich um weitere Herausforderungen unserer Zivilgesellschaft, wie etwa: Schwitzen, Stinken, hungrig sein, nicht wissen, wo mensch sich gerade befindet, Angst haben, Orientierungslosigkeit, Dunkelheit, frieren, nass sein bis auf die Unterhose, nackt sein, ohne Handyempfang sein, usw…
Damit das hier niemand falsch versteht, wir arbeiten bei N.E.W. nach unserem Sicherheitsmanual, was überraschend viele Seiten hat! Bei uns geht Sicherheit vor und in den über 20 Jahren unserer Arbeit mit zig Tausenden von Menschen gab es noch keine schlimmeren Verletzungen…
Was uns die Wildnis zu sagen hat
Und dennoch sehen wir in dieser Thematik eine gewisse Entfremdung unserer Gesellschaft. Als ob die Wildnis nun endlich besiegt worden wäre in den Köpfen der sterilisierten Großhirnrinden, die eh die virtuellen Welten vorziehen, weil es da immer auch den Löschen-Button gibt oder bei den diversen Onlinegames es immer mehrere Leben gibt, zur Not wird nachgekauft.
In diesen Welten haben wir es geschafft, sogar den Tod zu besiegen!
Ups, der Tod hat Einzug gehalten in diesen Artikel. Sein aktuell größtes Problem mit unserer Gesellschaft scheint zu sein, dass er nicht mehr lauern darf. Wir wollen für immer jung und gesund bleiben und denken gar nicht daran, bis ans Ende zu denken. Es soll immer weiter gehen, an der Börse, in der Wirtschaft, in der Beziehung, mit dem Anhäufen materieller Güter,…
Wir sind sterblich!
Ach ja: Ich liebe das Leben, nicht dass mich jemand falsch einsortiert! Aber ich erahne nach all den Jahren auch die Wichtigkeit der Integration des Todes im Hier und Jetzt. Alle großen Weltreligionen haben ihre Totenbücher dazu, alle mystischen Lehren befassen sich ausgiebig mit dem Tod und was machen wir in unserer westlichen Welt? Wir haben eine Schönheitsindustrie, die gegen Falten und Haarausfall in den Krieg zieht, es ist in unseren Ländern legal, sinnlose Schönheitsoperationen durchzuführen (was für ein Irrsinn), wir versichern uns gegen alles ab, wir werden zu Helikoptereltern und fahren unsere Kids lieber selbst bis vor die Schultüre und begleiten die schutzlosen Kleinen auch noch bis an die Eingangstüre (ich wohne neben einer Grundschule und kann das bezeugen), wir lassen uns impfen (seltsamerweise gibt es nur gegen ganz wenige Virenkrankheiten Impfmöglichkeiten, das liegt fast schon im Promillebereich) und die restlichen Krankheiten scheinen wir dann zu verdrängen.
Natürlichkeit wieder einen Raum geben
Deshalb ist mir als Erlebnispädagoge die blutende Schramme am Bein eines Schülers so „wertvoll“. Sie ist mit der kleinste Bruder des Todes, diese Verletzung und darf sich zeigen! Deshalb spielt die Erlebnispädagogik auch so gerne mit Grenzen. Wir haben den Wunsch, diesem Teil unserer Natürlichkeit wieder einen Raum zu geben: Am Feuer zu sitzen und auch die Gefahren von Feuer wieder zu erfahren (ja, die schönen Nikes sind nicht feuerfest und schmelzen dahin, wenn du die Füße ins Feuer streckst). Durch ein Gewitter zu wandern oder gar barfuß über eine Wiese zu gehen, obwohl es da vermutlich Insekten, Krabbeltiere oder gar ne fiese Glasscherbe geben könnte. Bauchschmerzen zu bekommen, weil eine falsche Beere gepflückt wurde. Auf eigener Haut erfahren, wie schmerzhaft Brennnesseln sein können (welche Power darin steckt). Zu spüren, wie schnell wir selbst im Sommer im Schwarzwald bei einem Wettersturz zitternd im Hagel stehen und feststellen, wie sehr wir auf Kleidung und Beherbergung angewiesen sind als Mensch. Beim Erreichen des Gipfels die mitgebrachte Brotzeit zu genießen und jeden Bissen sorgfältig auskosten, weil es da weit und breit keinen Kiosk oder Imbiss gibt. Mal wieder hungrig zu sein, ohne gleich was aus dem Kühlschrank nachzuschieben! Den Schüler*innen erlauben, Holz zu hacken. (Kürzlich erhielten wir von einer Berufsschule das vielseitige Sicherheitshandbuch mit dem Verweis in Bezug auf das Thema „Holzarbeiten mit Sägen und Äxten“: Sicherheitshose + Schutzbrille + Schutzhandschuhe + Sicherheitseinweisung+…)
Ein Methodenhinweis aus dem alten Schwarzwald für Wagemutige!
Ich bin im Schwarzwald aufgewachsen. Manchmal haben wir mit einem Strick junge aber schon kräftige Laubbäume an den Steilhang (immer steil im Schwarzwald) zurückgezogen und gebogen. Gleich mehrere von uns spannten so diesen überdimensionalen Bogen auf und immer einer durfte sich dann am oberen Teil des gebogenen Baumes festklammern, während die anderen dann auf Kommando losließen! Es war immer eine fantastische Beschleunigung von 0 auf 100 und ich würde gerne mal ein Sicherheitsmanual dazu lesen.
Wir lassen den Tod nicht mehr lauern!
Wir lassen den Tod nicht mehr lauern! Auch nicht in Zeiten von Corona. Ich will hier wirklich, wirklich niemandem zu nahe treten, der oder die in letzter Zeit einen lieben Angehörigen durch oder mit dem Coronavirus verloren hat! Aber mir fehlt auch in dieser Krise ein wenig die kollektive Einsicht, dass wir Menschen sterblich sind. Fatal in diesem Zusammenhang waren dann auch noch die fast anonymen Beerdigungen in den letzten Wochen aufgrund des Versammlungsverbots. Und natürlich bin ich dankbar um unsere unglaublich gute Notfallmedizin und unsere Forschung, die sich um hilfreiche Medikamente bemüht und um politische Entscheidungen, die diesen Virus eindämmen wollen.
Aber wir können Corona nicht wegmachen.
Es wird immer Viren geben, die uns schaden können, vielleicht tragen sie das nächste Mal einen anderen Namen. Das klingt jetzt vielleicht für manche unerträglich und schwachsinnig, aber wir müssen lernen Corona ganz anzunehmen!
Wir brauchen diese tiefere Auseinandersetzung mit dem Tod und mit unseren Ängsten in unserer Gesellschaft!
Einen kleinen Teil dazu tragen wir mit unserer erlebnispädagogischen Arbeit bei, wie wir glauben.
“Der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener.
Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben.”
Rainer Maria Rilke